Samstag, 24. Juni 2023
Startphase
Meine Eltern gehören der Nachkriegsgeneration an, sind also kurz nach dem zweiten Weltkrieg geboren und haben demzufolge recht schwierige Elternhäuser durchlebt. Sie gehören aber auch zu der Generation Wirtschaftswunder, und Anfang der 70iger Jahre in West-Berlin haben sie in der Blüte ihres Lebens zueinander gefunden und 1974 mit der Geburt meines Bruders eine kleine Arbeiterfamilie gegründet. Wohnort war schon damals Neukölln, eine kleine Zwei-Raum-Wohnung. Mein Vater hat als Arbeiter in einer Papierverarbeitungs-Fabrik gearbeitet, meine Mutter hatte verschiedene Anstellungen als Schreibkraft, schon damals teilweise auch im Home-Office, wobei das so noch nicht genannt wurde. Sie haben viel und kräftig gefeiert und die Freizeit wurde auf einem Campingplatz kurz hinter der innerdeutschen Grenze verbracht. Den Fotos und Erzählungen nach zu beurteilen stelle ich mir diese Zeit ziemlich cool vor. Also auch nicht verwunderlich, dass ich ein Wunschkind bin und im Sommer 1978 um 8.20 Uhr die Welt erblickt habe.
Die Zeit zwischen Geburt und ungefähr 6. Lebensjahr kann ich nur ungefähr beurteilen, teilweise durch Fotos, durch Erzählungen und durch vage Erinnerungen. In den ersten Jahren war ich wohl ein anstrengendes Baby, oft krank und ständig am quaken. Im Kindergarten die üblichen Querelen und zu Hause dann viel und oft Zank mit dem großen Bruder. Alles in allem muss es aber eine friedliche, sichere und behütete Zeit gewesen sein, denn ich habe nur, wenn auch zeitlich ungeordnet, positive Bilder im Kopf. Ich kann mich an Campingplätze in Ungarn und Frankreich erinnern, an meine Einschulung, unsere Hauskatze, - vor allem aber an unsere coole Wohnung. Mein Vater war ein Meister im Renovieren und unsere Wohnung war absolut klasse eingerichtet, ich könnte noch heute den Grundriss inklusive Möblierung aufzeichnen. Aber wie bereits erwähnt, alles vor dem 6. Lebensjahr ist nicht wirklich abrufbar. Die erste „echte“ Erinnerung war ein Unfall, den ich im Sommerurlaub vor meiner Einschulung hatte. Auf einer Fahrradtour hatte mich mein Bruder angerempelt und ich bin dadurch gestürzt, was eine aufgerissene Backe nach sich zog. Nicht die Schmerzen sind er Erinnerungsgrund, sondern meine damalige Angst, dass ich deswegen nicht eingeschult werden könnte.
Die Grundschulzeit war eine einzige rosa Blase, in der ich gelebt habe. Ich hatte einen großen Bruder, der viel auf mich aufpassen sollte und mir dabei eine Menge Blödsinn beigebracht hatte. Dafür hatte ich im Vergleich zu ihm aber viel früher schon viel mehr Freiheiten. Wir sind nahezu jedes zweite Wochenende zum Campingplatz gefahren, meine Eltern waren ganz klassische Dauercamper mit allen drum und dran! Darum hatte ich als West-Berliner trotzdem die Möglichkeit, bis zur sechsten Klasse regelmäßig zwei Tage im Wald herumzuturnen und die „Natur“ kennenzulernen. Morgens raus aus dem Wohnwagen und abends wieder zurück. Trotz Autobahn, Bundesstraße, Grenze und ohne Handy! Mein Bruder und seine Freunde waren natürlich oft mit dabei, was die Sache für mich als „der Kleine“ mitunter nicht uninteressanter gemacht hatte. Ansonsten hatte ich einen guten Kumpel, nennen wir ihn einfach Max, mit dem ich noch heute befreundet bin. Ich glaube, solche Freundschaften werden heutzutage nicht mehr geschlossen, aber das ist ein Thema für sich und gehört an anderer Stelle. Mit ihm war ich die gesamte Grundschulzeit wie „Arsch-und-Eimer“ und gemeinsam haben wir tatsächlich fast keinen Blödsinn gemacht. Wir gehörten eher zur Fraktion „Träumer“ und waren froh, wenn wir mit seinem LEGO oder meinem Playmobil in Ruhe spielen konnten. Und das konnten wir, und zwar tagelang! Selbst als irgendwann, in der 5. oder 6. Klasse, ein Game-Boy endlich da war und trotz Melanie, meiner ersten Liebe, waren wir trotzdem immer wieder am Spielen. Ende der 6. Klasse war mein Bruder im Alarm-Modus, weil er schlimmstes für mich in der 7. Klasse erwartete (und er hatte auch recht damit). Aber wie gesagt, die Grundschulzeit war das Kinderparadies auf Erden, ein sorgenfreies Leben von Ferien zu Ferien, unterbrochen durch die stete Vorfreude auf Geburtstag, Ostern und Weihnachten. Behütet, wohlbehalten und absolut verträumt, im Sommer mit Matsch und im Winter mit Eisklumpen an den Hosen. Der kleine Prinz, der ach so lieb ist und immer tolle Noten hat. Jupp, im Gedichte auswendig lernen war ich super. Aber auf alles, was danach kam, hatte mich keiner vorbereitet gehabt. Bis dahin aber war es eine angenehme Zeit, in der ich Werte wie Vertrauen, Ehrlichkeit und Familie kennen und leben gelernt habe. Meine Eltern haben sich permanent ihre persönliche Karriereleiter hochgearbeitet, wir Kinder haben Strenge und Liebe erfahren, mein Bruder hat sich in der Jugendgemeinde und im Sport eingelebt, ich war brav und habe keinen Ärger gemacht, meine Eltern hatten beschlossen ein Haus in Rudow zu bauen und insgesamt wurden in dieser Zeit meine persönlichen Eigenschaften geprägt, vieles von der damaligen Zeit lebe ich auch heute noch.
Das sind also quasi meine persönlichen Rahmenbedingungen, unter denen ich im Juli 1990 mit 12 Jahren, nicht einmal ein Jahr nach der Wende, die Grundschule zum letzten Mal verlassen hatte. Oder besser gesagt, es waren die Ausgangsbedingungen, die sich nach den Sommerferien dann änderten. Durch den Umzug in das Haus und die damit verbundenen finanziellen Einschränkungen war die Wohnwagen-Zeit vorbei, mein Vater hat viel nebenbei gearbeitet und meine Mutter ist Vollzeit arbeiten gegangen. Von meinem Bruder war kaum noch etwas zu sehen, Sport, Freunde, Freundinnen, - für ein paar Jahre war ich für ihn nur eine Mischung aus peinlich und lästig. Somit war ich beginnend mit der 7. Klasse völlig ungesehen unter dem Familien-Radar unterwegs.

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